Also um ehrlich zu sein…

Situation: Man ist beim Einkaufen und plötzlich aus heiterem Himmel und total unverhofft steht jemand vor einem (Ex-Freundin, ehemalige Mitschüler, Lehrer, verschollene Familienmitglieder, etc.) und grüsst mit den Worten „Heeeeey, dich hab‘ ich ja EWIG nicht gesehen!“ oder „Bist du das WIRKLICH?“ oder ähnlichem Schwall. Dabei kann es vorkommen, dass man umarmt wird, einen Knuff in den Oberarm bekommt, sich links-rechts Küsschen aufhaucht (in der Schweiz und Frankreich gibt es noch ein -links dazu), sich also mit Vertraulichkeiten bewirft, die man ansonsten grade mal seinem Lebensabschnittspartner oder sehr engen Freunden angedeihen lässt. Man hat dann zwei Möglichkeiten: einerseits könnte man sich freuen (selten) oder man verflucht sich, warum man ausgerechnet an diesem Tag Lust auf Bratkartoffeln hatte und jetzt vor eben diesem Regal und ebendieser Person stand (häufig). Man antwortet mit ähnlichen Floskeln und versucht das Ganze auf einer sachlichen distanzierten Ebene zu halten. Aber DANN wirft das Gegenüber den Killersatz in den Raum (ich überlege mir regelmässig, ob ich es jemals schaffen werde, diesen Satz ZUERST zu sagen und ob das überhaupt was bringen würde): „Gut siehst du aus.“ Das ist natürlich gelogen. Wer verzweifelt genug ist, regelmässig diese Seiten zu lesen, KANN einfach nicht gut aussehen (weibliche Gegenbeweise mit Bild an den Verfasser). Jetzt stehen wir unter Erwartungsdruck. Die Person gegenüber (im Weiteren der Einfachheit halber „Person“ genannt) macht jetzt nämlich Fishing-for-Compliments und erwartet einen Satz wie: „Du aber auch!“ Das ist ja nun wohl das LETZTE, das wir sagen wollen würden! Schliesslich hat sie einen fetten Arsch bekommen (geschieht ihr recht) oder er hat Haarausfall oder eine Wampe oder was auch immer (geschieht ihm auch alles recht) und sieht ganz bestimmt AUCH nicht gut aus. Also bietet sich als spontane Antwort an: „DU nicht!“ Ich kann mir vorstellen, dass da einige Gesichtszüge ganz sachte aber konsequent entgleisen würden. Oder: „Du auch, aber hattest du früher nicht Grösse 38?“ oder: „Was du nicht sagst!“ oder „Lüg mich nicht an, du SAU!“ (nach dem Genuss von Erdbeeren) oder alles andere, was uns gerade durch den Kopf schiesst und definitiv wahrheitsgetreuer wäre als das, was wir tatsächlich sagen: „Du aber auch, höhö“. Als ob das nicht genug wäre unterlegen wir es mimisch mit einem halbdebilen Grinsen. Dann betreibt man noch zehn Minuten lang active phrasing and floskeling und überlegt sich im Hinterkopf krampfhaft Taktiken, wie man möglichst schnell aus dieser Situation rauskommt, weil man mit der Person weder was trinken, noch essen, noch jemals wieder in der Öffentlichkeit gesehen werden will. Ich reisse mit Vorliebe meine Uhr hoch und sage „Oha, ich muss los, sonst verpass ich den Bus / Zug / etc.“ und mache einen Abgang. „Wir können ja telefonieren“ werfe ich noch in die Abschiedssequenz, mit dem bombensicheren Wissen im Kopf, dass keiner die Telefonnummer des anderen hat. Sollte das der Person auffallen, verschanze ich mich solange hinter den grossen Tierfuttersäcken, bis die Luft rein ist. Gemütlich steh ich dann wieder auf, dreh mich um und starre in ein Gesicht das sagt: „Heeeeey, dich hab‘ ich ja EWIG nicht gesehen! Gut siehst du aus!“

Aktuell im Ohr: OPM – Stash up

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