Das "Tage"-Buch historisch und hysterisch
Die ollen Krümel von früher
Was ich schon lange nicht mehr gemacht habe (ausgenommen in meinen Kanadaferien), sind lange Zugfahrten, obwohl ich das eigentlich immer gern gemacht habe. Bloss hatte ich längere Zeit kein Bedürfnis und/oder keinen Grund. Jetzt habe ich beides, denn wenn ein geliebter Mensch weit weg wohnt, dann ist das eine durchaus gangbare Variante, Distanzen zu überwinden, besonders wenn die Distanz grade so im Grenzbereich ist zwischen Zu-lang-für-meinen-Arsch-auf-Zugsitzen und Zu-kurz-um-sich-Flugzeug-sitze-anzutun. Also am Freitag Nachmittag ab in den Eurocity „Rembrandt“ und weil ich mit zartem Sitzfleisch gesegnet bin wähle ich für die Hinfahrt einen Aufpreis zu erster Klasse. Mit ein Grund ist der Panoramawagen, der in diesem Zug mitgeführt wird und der hat RIESIGE Fenster. Speziell in den tiefen des Rheintals hätte mir dieser Umstand einen super Ausblick geben sollen auf die erhabenen Schlösser, die Klippen und die… na egal, was soll ich lange rumsülzen, schon in Frankfurt war es stockdunkel und die Aussicht ging in leicht spiegelndem Glas unter. Geschickterweise sollte im Spätherbst die fortgeschrittene Tageszeit berücksichtigt werden. Aber es war ja auch innerhalb des Wagens für Unterhaltung gesorgt. Als erstes in Basel bekam ich einen leichten Herzinfarkt, als sich mir gegenüber ein Mann niederliess, der mich nicht nur beim ersten Blick an Catweazle erinnerte. Nur mit geschnittenen Haaren. Also nicht mehr arsch- sondern nur noch knapp schulterlang. Und der fusslige Bart war auch nicht mehr ganz so lang, aber man konnte bestimmt keinen Übergang feststellen zwischen Ober- und Unterlippenbehaarung. Das ganze war dann noch gleich strubbelig wie bei dem alten Fernsehzauberer damals, zurück in den Siebzigern. Obwohl die ländliche englische Gegend in der Serie heute noch aussehen würde wie damals. Oder in den Sechzigern. Oder noch früher. So konservativ sind die Inselaffen dann wieder. Eigentlich erstaunlich, dass sie die Kulissen heute in Farbe zeigen. Der Herr stieg dann glücklicherweise so um Mannheim rum wieder aus, ich hätte meinen Blick nicht viel länger von ihm wenden können. Der Reiz nach Essensresten zu suchen in dem Gestrubbel war ZU verlockend. Aber wieso grämen, zur Unterhaltung reisen ja noch Yuppies mit, die irgendwelche Hochschulabschlüsse haben, überbezahlte Jobs und teure Klamotten, die sie nicht zu schätzen wissen. Kaufen aber a) Handys, die aussehen wie schwarz angemalte Ziegelsteine oder sind b) zu hohl, um bei einem Handy im Zug auf Vibration zu stellen. Oder beides. Oder lassen die Dinger mit Absicht durch den ganzen Zug düdeln, weil sie dank kontinuierlichem Proseccosaufen noch nicht gemerkt haben, dass heute sogar der Penner auf dem Bahnhofsvorplatz ein Mobiltelefon sein Eigen nennt und es nicht mehr wirklich ein Statussymbol ist. Hinzu kommt der furchtbare Geschmack bei der Auswahl bizarrster Klingeltöne. Aber der Schneewalzer gehört nun SICHER NICHT auf ein Handy! „Helo, sis is Klodia! Ei em in se treen nou. Affter äreiwing, ei wil stäi bei Konrad. Yess!“ Wie man mit einem so schlechten (oder einfach nur beschissen gesprochenen) Englisch in eine Chefetage kommt ist mir auch schleierhaft. Hat mich nur gewundert, dass sie nicht gesagt hat, dass sie bei Konwheel stäid. Ich freu mich schon auf die nächste Fahrt im Kuriositätenkabinett. Dann aber wieder zweite Klasse. Da rennt vielleicht keiner rum und fragt, ob Montabaur (schreibt sich das so?) in Hessen liegt oder nicht. Und wenn doch kriegt er vielleicht eins auf die Fresse. In der zweiten Klasse sieht man das nicht so eng.